Gravitationsgesetze

Das Gravitationsgesetz der Politik besagt, dass jeder Politiker zu Fall gebracht werden wird. Lange hatten wir gedacht, dass Christoph sich diesem Gesetz entziehen, respektive es widerlegen würde. 

Schon im Gymnasium war er darauf bedacht, keine Fehler zu machen und nichts Falsches zu sagen. Er achtete peinlichst drauf Regeln einzuhalten. Eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sich alle an die Regeln halten, war sein Credo. Er konnte sich leidenschaftlich in Diskussionen einbringen, wählte aber seine Worte immer stets vorsichtig und achtete streng darauf, sachlich zu argumentieren. Wenn er glaubte, dass ihm zu einem Thema das Hintergrundwissen fehlt, gab er das offen zu und hielt sich aus der Diskussion raus. 

Seine Politkarriere verlief zwar nicht kometenhaft, aber sehr stetig. Er war kein charismatischer Politiker, aber seine Sachkompetenz war allgemein anerkannt. So war es ihm möglich, wann immer durch Abgänge Posten frei wurden, solche Lücken zu füllen. Er wurde so durch einen allgemeinen Aufwärtssog langsam nach oben getragen und da er es vermied Fehler zu machen, gab es nie Gründe, ihn nicht zu berücksichtigen. 

Das funktionierte alles ganz wunderbar in den unteren Rängen, wo es viel zu tun, aber wenig zu ernten gibt. Aber als es um die Aufstellung ins nationale Parlament ging, bekam alles eine andere Dimension. Da sind Regierungsposten und später lukrative Aufsichtsratsmandate schon fast in Reichweite. Entsprechend wurden die Bandagen härter.

Die Aufnahme kursierte im Netz schon lange. Kann sein, dass Christoph sie mal auf einer Social-Media-Plattform gepostet hatte. Sie zeigt Christoph im Kreise seiner Kameraden der Jugendgruppe, wie sie aus vollen Kehlen singen. Wie der Journalist draufkam, das Gesangsbüchlein der Jugendgruppe ausfindig zu machen, ist uns rätselhaft. Dass auf der letzten Seite das Lied von den zehn kleinen Negerlein gedruckt war, konnte er wohl kaum wissen. Auch wir erinnerten uns nicht daran. Wer kennt schon nach 30 Jahren alle Lieder eines Liederbüchleins auswendig. 

Sei dem wie es wolle. Der Vorwurf, den er daraus konstruierte, war der eines Rassisten, der inbrünstig darüber singt, wie ein Negerlein nach dem anderen über die Klinge springen muss. Nur, um das ganze dann wieder von vorne beginnen zu lassen, nachdem das letzte Negerlein eine Negerfrau gefunden hat. 

Christoph beteuerte, dass er natürlich keineswegs Rassist sei und sich auch nicht an dieses Lied erinnern könne. Es war vorauszusehen, dass dies nicht helfen würde. Man hatte Blut gerochen. In weiteren Artikeln wurde Christoph der Lüge bezichtigt, denn gleichzeitig erschienen Interviews mit einem ehemaligen Jugendgruppenmitglied, welches versicherte, dass «Zehn Kleine Negerlein» eines der populärsten Lieder war und dass dieses bestimmt auch zum Anlass, bei dem das Foto gemacht worden war, gesungen worden war. Dass dieses Mitglied um Jahre älter war als Christoph, interessierte niemanden.

Mit Aussagen wie: «Es kann schon sein, dass ich dieses Lied mitgesungen habe, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.» oder «Damals war uns schlicht nicht bewusst, dass das Lied rassistisch interpretiert werden könnte» versuchte Christoph einen geordneten Teilrückzug, in der Hoffnung, die Kampagne würde an Dynamik verlieren und dann irgendwann ganz versanden. Das ging erwartungsgemäss nach hinten los. 

Der Presse gelang es auf der Basis dieser Äusserungen das Bild eines politisch unsensiblen Technokraten zu zementieren. Um der Schmach einer Nichtwahl zu entgehen, verzichtet er auf die Kandidatur und hängte die Politik an den Nagel. Er wolle doch lieber einer anständige Tätigkeit nachgehen und wechselte zu einer Bank.

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