Freie Familienwahl

Ich habe wieder von einer besseren Welt geträumt. Von einer Zukunft, in der jedes Kind das Recht hat, seine Familie selbst zu wählen. 

Wenn man ein Neugeborenes vor Augen hat, mag das natürlich absurd erscheinen. Mag ja sein, dass nicht jede Muttermilch gleich bekömmlich ist. Ein Säugling kann das auch lauthals zum Ausdruck bringen. Aber wie soll er wissen, ob eine andere Muttermilch bekömmlicher ist. Das Recht auf freie Familienwahl – in diesem Fall also eher das Recht auf freie Mutterwahl – mag unter diesem Aspekt etwas theoretisch erscheinen. 

Theorie ist Theorie. Mein Traum handelte von Kevin. Als Kevin in die Schule kam, begann ihm zu dämmern, dass es Kinder gibt, denen das Leben mehr zu bieten hatte als ihm. Die meisten Kinder wurden zur Schule gefahren, Kevin musste zu Fuss gehen. Die meisten bekamen täglich Taschengeld, um sich in der Pause was zu kaufen, Kevin bekam täglich einen Apfel. So ging es weiter. Die anderen Kinder dürften Videospiele spielen, Kevin musste lesen. Die anderen Kinder flogen in den Urlaub, Kevin ging auf eine Fahrradtour. 

Das machte Kevin sehr unglücklich. So blieb es auch bis zur dritten Klasse. Da stiess Kevin im Internet auf eine Videoserie, die darüber aufklärte, dass jedes Kind das Recht habe, seine Familie frei zu wählen. Falls also seine jetzige Familie seinen Bedürfnissen nicht gerecht werde, könne er diese verlassen und zu einer anderen Familie wechseln. Diese dürfe ihm auch die Aufnahme nicht verwehren. Kevin hatte davon noch nie gehört. Es war ihm auch nicht bekannt, dass ein Kind schon die Familie gewechselt hätte. Aber im Internet stand es schwarz auf weiss.

Das klang nach Hoffnung. Trotzdem. Obwohl er seiner Familie überdrüssig war, wollte er nichts überstürzen. Ihm war schon klar, dass hinter den Fassaden der Nachbarshäuser auch nicht alles perfekt war. Zwar bekam Sandro jeden Tag Taschengeld, aber dafür musste er sonntags zur Kirche. Das Internet sagte, dass im Grundsatz jedes Kind die gleichen Rechte hat, aber ansonsten die gleichen Regeln zu befolgen hat, wie alle in der Familie. Er würde der Wahlfamilie auch nicht mit Weglaufen drohen können, falls er nicht das Gewünschte bekommen sollte, die würden ihn vielleicht einfach gehen lassen. Nein, er musste gut wählen.

Nach Wochen genauen Beobachtens und Ausfragen von Schulkameraden entschied sich Kevin dafür, bei der Familie Schmid einzuziehen. Die Schmids hatten eine Tochter etwas älter als er. Diese war alt genug, um sich für ältere Jungs zu interessieren und würde ihm nicht in die Quere kommen. Die Schmids assen oft auswärts und flogen zweimal im Jahr in den Urlaub. Und sie waren keine Veganer. Sie waren auch nicht religiös, so dass es nicht nötig sein würde, das Recht auf freie (oder keine) Religionsausübung geltend zu machen, um nicht mit der Familie zur Kirche gehen zu müssen. Schmids hatten ein grosses Haus. Die Zimmer waren zwar alle genutzt als Lesezimmer, Musikzimmer, Ankleidezimmer, Bügelzimmer, aber da würde man halt eines für ihn räumen müssen. 

Kevin setzte seinen Plan an einem Sonntag um. Die Schmids sollten ja genügend Zeit haben, um ihm Platz zu machen. Kevin klingelte an einem Sonntagvormittag bei den Schmids. Vater Schmid schaute ziemlich verwundert, als er Kevin mit zwei Koffern vor der Tür stehend sah. Kevin liess es gar nicht erst zu einer Frage kommen, sondern legte gleich los: «Guten Morgen, ich bin Kevin und werde gestützt auf das Recht freier Familienwahl bei Euch einziehen.» Vater Schmid schaute noch verwirrter und sagte, was von das gehe nicht, hätten keinen Platz und von einem Recht auf freie Familienwahl habe er nie was gehört. Darauf war Kevin vorbereitet und streckte ihm einige gedruckte Internet-Seiten hin, die Vater Schmid ungläubig durchlas. Er sagte: «Warte» und schloss die Tür.

Kevin konnte nicht hören, was im Haus gesprochen wurde, aber es klang, als würde Vater Schmid mit seiner Frau und danach mit jemandem am Telefon sprechen. Nach zwanzig Minuten öffnete sich die Tür wieder und Vater Schmid sagte: «Komm rein.» Mutter Schmid stand etwas abseits und schaute genauso ungläubig wie vorher Vater Schmid. 

Vater Schmid erklärte, dass man auf seine Ankunft nicht vorbereitet sei und man erst einmal improvisieren müsse. Er brachte Kevin zum Bügelzimmer, entschuldigte sich, dass es noch etwas unordentlich sei, dass man aber im Laufe des Tages ausräumen und nächste Woche dann Mobiliar kaufen werde. Das konnte sich Kevin nicht gefallen lassen und machte klar, dass ihm ein gleich grosses Zimmer zusteht, wie seiner Wahlschwester. Nach einem kurzen Rundgang durch die anderen Zimmer, entschied er sich für das Musikzimmer. Ab heute musste halt im Bügelzimmer musiziert werden. 

Der Rest des Sonntags verlief ganz angenehm. Man ass beim Italiener zu Mittag. An einen Tisch, der für drei Personen reserviert war, konnte man problemlos eine vierte Person setzen. Auch sonst lebte sich Kevin ganz gut ein. Er musste zwar vereinzelt darauf hinweisen, dass er Rechte hatte, aber er bekam, was er wollte. Er mochte seine Wahleltern nicht wirklich, aber das war nicht weiter ein Problem, denn sie liessen ihn aus Angst, er könnte sie für diskriminierendes Verhalten verklagen, in Ruhe. 

Kevin war dann doch etwas überrascht, als Vater Schmid eines morgens verkündete man werde umziehen. Und zwar habe man zwei grosse Zelte gekauft und werde ab kommendem Monat auf den Zeltplatz im Nachbardorf ziehen. Kevin protestierte, er weigere sich mitzukommen. Er könne gerne noch im Haus bleiben, bis man einen Käufer gefunden habe, aber das Familienleben spiele sich ab nächstem Monat auf den Zeltplatz ab. 

Das stellte Kevin vor unerwartete Herausforderungen. Auf einem Zeltplatz wohnen kam für ihn nicht in Frage. Das wäre schlimmer als bei seiner alten Familie. Nach nur zwölf Monaten schon wieder eine neue Familie zu suchen, war nicht, was seinen Plänen entsprach. Was ihm aber wirklich schlaflose Nächte bereitet, war die Liste, anhand derer er vor zwölf Monaten die Schmids ausgewählt hatte. Denn darauf wies die nächstplatzierte Familie nur gerade die Hälfte der Punkte der Schmids auf und diese lag nur knapp vor seiner alten Familie. Es wurde also eng. 

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